Urteilsfähigkeit

Welche Voraussetzungen gelten für minderjährige Personen?

Welche Voraussetzungen muss eine minderjährige Person bzw. ein Kind erfüllen, um in der Apotheke Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, etwas zu kaufen oder etwa Arzneimittel für sich oder eine Drittperson zu erhalten?

 

Als Grundsatz gilt, dass sich nicht volljährige Jugendliche nur mit Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertretung – in der Regel der Eltern – vertraglich verpflichten können. Es gibt aber Ausnahmen davon. Einen Kaufvertrag kann ein Kind bereits früh abschliessen, als Faustregel gilt, dass die Ware nicht mehr als das mutmassliche Taschengeld des Kindes kosten sollte und das Kind bezüglich des Einzelfalls urteilsfähig sein muss. Wenn einem Kind Arzneimittel abgegeben und somit ein Behandlungsvertrag abgeschlossen werden soll, so geht es um die Frage nach den sogenannt höchstpersönlichen Rechten des Kindes. Diese kann ein Kind gemäss Rechtsprechung für nicht schwerwiegende Eingriffe, das heisst, wenn es etwa um eine alltägliche und nicht kostspielige Behandlung geht, ohne die Zustimmung der gesetzlichen Vertretung wahrnehmen, sofern es urteilsfähig in diesem konkreten Einzelfall ist. Die Urteilsfähigkeit wird im Fall von Behandlungsverträgen ab dem Alter von 16 Jahren vermutet. Bei Kindern unter 12 Jahren wird im Gegensatz zum Kaufvertrag vermutet, dass diese nicht vorliegt. Bei Kindern im Alter zwischen 12 und 16 Jahren muss die Medizinalperson die Urteilsfähigkeit im Einzelfall abklären und dies dokumentieren.

Hierfür können folgende Fragestellungen dienlich sein:

  • Weiss das Kind, was es will, und kann es seinen eigenen Wunsch äussern?
  • Ist das Kind intellektuell und kognitiv seinem Lebensalter entsprechend entwickelt und gereift
  • Hat das Kind die Information über die Sachlage/Diagnose, die vorgesehene Behandlung und die damit verbundenen Risiken verstanden?
  • Ist das Kind in der Lage, Vorteile und Risiken der Behandlung gegeneinander abzuwägen und allfällige Alternativen in Betracht zu ziehen?
  • Kann das Kind die Besonderheiten der individuellen Situation erkennen und sie seiner Entscheidung zugrunde legen?

    (Quelle: pharmaJournal 10|2013 «Abgabe von Medikamenten an Jugendliche», sowie pharmActuel 1/21 «Ethik in der Apotheke») 

Beispiele:

  • Einem 9-jährigen Kind kann Traubenzucker verkauft werden. Falls dieses Kind aber Kopfschmerzen hat und ein Schmerzmittel kaufen möchte, so ist ihm dies zu verweigern, da es sich nicht um einen Notfall handelt und vermutet wird, dass das Kind in Bezug auf die Situation nicht urteilsfähig ist.
  • Wenn eine 13-jährige jugendliche Person die «Pille danach» kaufen möchte, so müssen die Apotheker/innen im Gespräch abschätzen, ob sie diesbezüglich urteilsfähig ist. Massgebend ist in dieser Situation zudem die Dringlichkeit, da mit fortschreitender Zeit die Wirksamkeit der Kontrazeptiva sinkt. Die Abklärung und das Ergebnis sind schriftlich zu dokumentieren. Falls mutmasslich keine Urteilsfähigkeit besteht und die jugendliche Person nicht wünscht, dass die gesetzliche Vertretung beigezogen wird, so ist sie zumindest an eine entsprechende Beratungsstelle oder an spezialisierte Ärzt/innen zu verweisen.
  • Dieselben Fragen wie beim Behandlungsvertrag stellen sich grundsätzlich auch bei einer möglichen einfachen Körperverletzung, beispielsweise beim Ohrlochstechen. So wünschen einige Eltern bereits bei Kleinkindern Ohrlöcher. Die Einwilligung in eine allfällige einfache Körperverletzung ist ebenfalls ein höchstpersönliches Recht und das alleinige Einverständnis der gesetzlichen Vertretung kann ungenügend sein. Das heisst, dass das Stechen von Ohrlöchern bei Jugendlichen ab 16 Jahren auch gegen den Wunsch der gesetzlichen Vertretung zu unterlassen ist, wenn es das Kind nicht will. Bei Kindern ab 12 Jahren muss die Medizinalperson die Urteilsfähigkeit im Einzelfall prüfen und dokumentieren. So kann das Kind jeweils gefragt werden, was es wünscht und es kann gegebenenfalls die schriftliche Einverständniserklärung mitunterzeichnen. Auch in diesem Fall steht der Apotheke im Hinblick auf die Vertragsfreiheit grundsätzlich frei, ob die Medizinalperson im spezifischen Fall Ohrlöcher stechen will oder nicht. Sie darf dies jederzeit ablehnen, wenn sie es als nicht vereinbar erachtet und kann bereits im Beratungsgespräch klar mitteilen, dass sie die Ohrlöcher nicht stechen wird, falls das Kind sich wehren sollte – auch wenn dieses jünger ist als 12 Jahre und in diesem Fall grundsätzlich die Einwilligung der Eltern ausreicht.
  • Wenn ein Kind für eine Drittperson, etwa seine Mutter, ein Arzneimittel abholen will, stellen sich dieselben Fragen. Wegweisend ist die Sorgfaltspflicht der Apotheker/innen. Will also das 9-jährige Kind beispielsweise ein Rezept für Opiate für seine Mutter einlösen, weil diese nicht in der Lage ist, zur Apotheke zu kommen, so ist dies grundsätzlich zu verweigern und der Weg über die Nachlieferung zu wählen. Bei Arzneimitteln, deren Risiko einer Schädigung wesentlich niedriger ist, müssen im Einzelfall unterschiedliche Faktoren in die Entscheidfindung einbezogen werden und die Abgabe liegt im Ermessen der Apotheker/innen. Mögliche Faktoren sind etwa das Alter des Kindes, ob die Mutter den Auftrag an das Kind telefonisch bestätigen kann oder ob die Mutter bzw. das Kind der Apotheker/in bekannt sind. Empfehlenswert ist in solchen Fällen das Aushändigen eines Informationsschreibens zuhanden der Mutter oder Auftraggeber/in.

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass seitens der Apotheke Vertragsfreiheit besteht und bei Unsicherheit die Behandlung bzw. die Abgabe von Arzneimitteln abgelehnt werden darf. Dies mit Ausnahme von dringenden Fällen, in denen die Beistandspflicht besteht. Bei Ablehnung sollte das Kind zumindest an eine geeignete Beratungsstelle oder Einrichtung verwiesen werden. Apotheker/innen haben bei urteilsfähigen Kindern das Berufsgeheimnis auch gegenüber deren gesetzlichen Vertretung zu wahren. Weiterführende Informationen zu diesem Thema finden Sie im pharmaJournal 10/2013 «Abgabe von Medikamenten an Jugendliche», sowie im pharmActuel 1/21 zur «Ethik in der Apotheke».